Donnerstag, 12. Mai 2016

Modernes Herz

Hallo, wie geht es dir?

Bei uns hier regnet es heute in Strömen. Ein perfekter Tag um die eigenen vier Wände etwas auf Vordermann zu bringen und dabei Musik zu hören.

Soviel zur Theorie. In der Praxis verhält es sich so, dass der Postbote mir Heute neue Musik geliefert hat: Das neue Milow Album, dass offiziell erst Morgen erscheint. Danke, ExLibris! Nun, mir liegt viel an Musik. Und die hier kann ich einfach nicht nebenbei hören. Nicht, wenn sie neu ist. Ich habe gekocht, den Abwasch gemacht und den Staubsauger rumgeschoben. Der Rest muss warten.

So kommte es also nun dazu, dass ich - Musikjunkie mit Abhängigkeitsstufe unheilbar - dir nun meine Eindrücke dieser neuen Scheibe, Platte, CD, Datenfiles aufschreibe. Vielleicht magst du es lesen. Wenn nicht: See you next time.

Milow ist ein Musiker aus Belgien, der 2009 einen relativ dreckigen Song musikalisch sauber gewaschen und dadurch die Welt erobert hat. Das Lied gefiel mir übrigens schon in der Originalversion hervorragend. Den verruchten Text dann in ein honigfarbenes Seidenkleidchen zu verpacken und allen etwas vorzugaukeln, fand ich aber auch sensationell.

Hast du schon den Kopf geschüttelt, weil ich vorher schrieb, er hätte mit seiner Musik die Welt erobert? Genaugenommen ist es ja 'nur' Europa. Wenn man in Verkaufszahlen rechnet. Er hat aber meine Welt erobert: Musikalien. Mein Ein und Alles.

Ehrlich: Sein letztes Album hat es in Musikalien nur bis kurz über die Grenze geschafft und blieb dann dort. Verstaubte. Das dazugeschenkte Akustik-Bonus-Dings läuft aber jeden Abend (seither. jeden Abend. jeden.) im Kinderzimmer und geleitet das Töchterchen in den Schlaf.

Die neuen Songs sind nun also der Matchball für Milow - was mich betrifft. Er hat diese Zusammenstellung 'Modern Heart' getauft. Bekommt sie ein Visum für Musikalien? Darf sie vielleicht sogar ganz da bleiben und mir mit den Vorvorgängern mein persönlicher Wegbegleiter sein?

Zuerst dachte ich nein. Aber das war nicht Heute, sondern letzten November, als der Musiker mit ohne Haare vor mir und zwanzig anderen Musikjunkies sass und ein Wohnzimmerkonzert gab. (Hüpf rein - wir fahren auf dem Weg zu meiner kleinen Albumvorstellung einen kleinen Umweg. Einer dieser Umwege, die sich lohnen. Wir halten in Leuven, Belgien ...) Irgendwann fragt er fast beiläufig, ob wir gerne ins neue - noch nicht fertige! - Album reinhören möchten. Hä?! Nessaja's Ohren drohen sich vom Kopf zu lösen und abzufallen. Ernsthaft? Er verbluetootht sein iPhone mit den Lautsprechern und sucht den ersten Song, den er uns vorstellen möchte. Sein Herz schlägt dabei bis zum Hals - man kann es beinahe sehen. Die Musik läuft und er wippt - konsequent auf den Boden schauend - im Takt mit. Ich sehe ihm zu und bin dankbar für diesen Moment. Abgesehen vom Offensichtlichen auch dafür, zu sehen wie wichtig ihm dieses Hier-und-Jetzt gerade ist. Er steht anschliessend auch zu seiner Aufregung in dem er sagt, er hätte ja eigentlich in unsere Gesichter sehen und die Reaktionen direkt abholen wollen. Aber er hätte es nicht geschafft. Viel zu aufgeregt sei er gewesen. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich den mag?

Sein Apfelgerät spielt die ersten Klänge. Ich schliesse die Augen und sehe die Hüter der Tore zu Musikalien. Sie treten zusammen - ganz dicht. Schützen die Pforten: Waiting Around For Love steht da. In seinem Rucksack viel Elektronik. Die Gitarre hat es nicht ausgepackt. Die Wächter werfen mir fragende Blicke zu. Darf es rein? Die Monotonität der Musik lenkt mich davon ab, mich auf den Text zu konzentrieren. Ich schüttle kaum merklich meinen Kopf. Das Tor bleibt zu. Milow schickt Lonely One hinterher. Auch damit kann ich irgendwie nix anfangen. Da sitze ich auf diesem Stuhl in Leuven, umgeben von Lieblingsmenschen und denke: Verdammt.

Dann folgen noch drei weitere Songs. Und die zaubern. Die Wächter beachten mit nicht, denn sie wissen es auch: Modern Heart darf rein. Bass, Elektrobeats und viel Drumrum dürfen mit. Weil wir jetzt wissen, was sonst noch kommt. Milow reist gerne. Auf Modern Heart nimmt er von sämtlichen Musikstilen ein Souvenir mit. Und seit dieser Novembernacht kaue ich nun ungeduldig auf meinen Fingernägeln rum. Komme mir vor wie Gollum, der den Ring zurück will.



Jetzt ist es da, und ich habe Ruhe und Zeit, mich auf Musik und Text einzulassen. Here we go:

Waiting Around For Love
Der monotone erste Eindruck bleibt auch jetzt. Allerdings habe ich zusammen mit dem Text, den ich jetzt konsumieren kann, keine Mühe mehr damit. Es geht darum, dass man manchmal etwas tut und dann merkt: Das war relativ suboptimal. Man sitzt dann vor dem Scherbenhaufen und denkt "Ja bon - zu spät." Durch den/die Fehler hat man sich aber verändert. Und wenn man will, kann man zusammen versuchen, aus den Scherben etwas neues zu bauen. Anstatt einfach nur zu warten, dass was passiert, packen wir es besser an. Wenn es uns wichtig ist, schaffen wir es. Ich frage mich, warum er sich DEN Song als Opener ausgesucht hat. Von der Melodie her passiert wenig. Der Opener soll doch der I-WANT-MORE-Song sein. Hmmm. Muss ja nicht immer alles verstehen. Allerdings vergass ich zu erwähnen, dass Modern Heart in einer Deluxe-Version mit einem Buch geliefert wird, dass nebst den Songtexten, Fotos und Notenblättern auch ein Interview beinhaltet. In dem er genau diese Frage, warum das der Opener ist, beantwortet. Lest es selber. Nur soviel: Er vertraut noch immer fest darauf, dass wer seine Musik konsumiert, auf die Texte hört.

Lonely One
Ach, Lied. Was hast du mich damals schockiert. Jetzt bist du aber vor ein paar Wochen schon als Singel rausgekommen und was stellt Nessaja fest? Du warst damals ein gut verpackter Ohrwurm. Und obwohl du mir alles andere als gute Laune machst, mag ich dich. Allerdings nicht jeden Tag gleich.

Howling At The Moon
Durfte die erste Singel sein. Wie ich finde, eine Weise Entscheidung: Man kann schnell mitsingen, bekommt die Melodie nicht mehr aus dem Kopf (heult auch mal im Supermarkt zwischen den Regalen) und die Radiostationen spielen es rauf und runter. Jeder kann dazu sein persönliches Kopfkino anwerfen. Mein bald vierjähriger Tochterschatz kann kein Englisch. Sie singt den Song trotzdem und tanzt durch die Gegend, sobald er beginnt. Sie lächelt dabei seelig und genau das meine ich: Dieses Lied findet seinen Weg, schleicht sich einfach ein und bleibt dann da. Es verbindet und das ist absolut gewollt. Auch musikalisch stellt Howling At The Moon auf Modern Heart für mich die Brücke dar. Zwischen dem was Milow bisher gemacht hat und wofür ihn seine Fans so mögen und dem, was er neu für sich entdeckt hat. Für mich ist Howling At The Moon von der Melodie her der erste Song, bei dem 'was passiert'.

Fast Lane
Dieses Lied wird höchstwahrscheinlich mein neuer Live-Favorit. Er handelt davon, dass man irgendwo feststeckt und raus will. Das kommt bei Milowsongs öfters vor - und ich mag das. Denn ich vermute, dass es ganz vielen Menschen so geht. Mir auf jeden Fall regelmässig. Manchmal ist es ein Ort, machmal ein Job, manchmal eine Beziehung manchmal aber was ganz banales ... Ständig hinterfragen wir was wir haben/sind und fragen uns, ob das alles war. Den Refrain von Fast Lane haut Milow live raus, so richtig. Versteh mich nicht falsch: Er brüllt ihn nicht. Aber er fühlt ihn. Er will, leben. Er will weinen. Er will keine Angst davor haben, etwas zu wagen. Er will bluten. Er will den Schmerz spühren. Modern Heart hat von Fast Lane noch eine Live-Version drauf. Musst du dir anhören. Ich glaube ihm jedes Wort. Und wenn ich diesen Song künftig 99x bei einem Konzert höre ( ...), dann glaube ich ihm 99x dass ihm genau in dem Moment dieses Ich-muss-hier-raus-Gefühl durch Leib und Seele jagt.

Love Like That Is Easy
Das war Liebe auf den ersten Ton und das erste Wort. Seelenstrip? Ok. Als ich es zum ersten Mal hörte, liefen die Tränen. Das ist nicht aussergewöhnlich, denn Musik macht das manchmal mit mir. Aber hier war es nicht aus Traurigkeit oder weil es so schön war. Es war so ... ICH! "I used to walk away too fast to keep the past behind me. Turned my back on my hometown, my friends and family ..." Das ist der erste Satz. Bullseye. Love Like That Is Easy beschreibt für mich persönlich meinen Weg bis zu dem Augenblick, als meine Tochter geboren wurde. Was da passiert ist. Mit mir, mit uns. Und was wir seither sind. Es ist meine Interpretation dessen was passiert, wenn du Mama oder Papa wirst. Für dich ist es vielleicht der perfekte Beschrieb von dem, was zwischen dir und deinem Partner besteht. Das ist das herrliche an Musik mit guten Texten: Man darf sie mit dem verbinden, was man möchte und sie so ganz persönlich auffassen. Wunderschön verpackt. Danke. Auch dafür, dass der Eisbär die Akustikgitarre auf seiner Reise nicht nur mitgeschleppt, sondern auch mal ausgepackt hat.

No No No
Noch ein Ohrwurm! Ausserdem findet man sich auch hier wieder selber: Du wirst mit Ablehnung konfrontiert und lernst damit umzugehen. Die Botschaft: Diese No's sind wertvoll. Du brauchst sie. Dem stimme ich zu. Mit Abstand betrachtet. Bin ich gerade mitten in so einer Situation, will ich davon natürlich nix wissen. Es dauert eine Weile, bis man vor lauter Bäumen den Wald sieht. Singt Milow. Because he knows. Knows. Knows.

Running Blind
Hier fliesst ganz viel zusammen. Musikalisch. Mir persönlich gefällt die Liveversion um Längen besser. Zu diesem Lied musst du unbedingt mal laufen. Also joggen. Aber nicht mit geschlossenen Augen, natürlich. Ernsthaft. Ich glaube, wenn du zu diesem Song in der Natur läufst, passiert etwas. Lass es mich wissen, wenn du es ausprobiert hast. Im 'schlimmsten' Fall passiert halt nur, dass du von A nach B kommst.

Really Rich
Tadaaaaa! Mein Lieblingslied auf Modern Heart. Auch den Song durfte ich in Leuven schon kennenlernen. Übrigens war ich da auch total nervös. Ha! Really Rich ist eines dieser less-is-more-Erlebnisse. Die Musik ist dezent, freundlich und umarmt mich. Besonders die Gitarrenriffs, die so unverwechselbar jene von Tom Vanstiphout sind. Weil die Melodie eben eher leise daher kommt, hatte ich damals keine Probleme, mich da schon mit geschlossenen Augen auf den Text zu konzentrieren. Und den hat er (schonwieder! er mag mich!) für mich geschrieben. Und für meine Freunde. Für die Freunde, deren Herz auch diesen Takt schlägt. Für jene, welche durch die Welt tingeln um sich diese anzuschauen und dabei Musik brauchen, wie die Luft zum atmen. Zwischendrin habe ich meine Augen geöffnet und in Gesichter geschaut. Die verstehen, was andere an mir "äs bizzli gaga" finden ("It's not their journey to make sense of it, it's yours. So go on explore the great outdoors ..."). Die mir so wichtig sind. Ich habe sie mir angeschaut und auch an die gedacht, die nicht da waren. Das ist unser Lied. Ich musste Tränen wegblinzeln, wollte den Künstler nicht irritieren indem ich gerade total wegbreche. Vor Glück! Obwohl nur einmal und in dieser aufregenden Stimmung gehört, habe ich den Text dieses Liedes in den vergangenen fünf Monaten nicht vergessen, denn er hat sich direkt in meine Seele gebrannt."Die Welt ist ein Buch. Wenn du nicht reist, liest du nur eine Seite daraus." Er singt davon, dass er den Wert der Dinge kennen will und nicht deren Preis. Tadaaaaa! Mein Lieblingslied auf Modern Heart.

Way Up High
"Den persönlichsten Song packe ich immer ans Ende," hat er uns verraten. Denn die meisten Menschen hören sich einen Tonträger nicht wirklich bis zum Ende an. Laut Statistiken. Diese persönlichen Lieder seien die Belohnung, für diejenigen, die sich die Zeit dafür nehmen. Way Up High ist nun dieses letzte Lied. Klavier - schmacht! Mein erster Gedanke. Dann beginnt Milow zu singen und da sitzt ein Klos in meinem Hals. Der Mann hinter Milow hat eine ganz besondere Vater-Sohn-Geschichte durchlebt. Sie ist identisch mit meiner Vater-Tochter-Geschichte. Nur ist sein Anfang meine Mitte und umgekehrt. Beide Geschichten haben aber das gleiche Ende: Unsere Väter sind nicht mehr am Leben. In Way Up High vermisst ein Kind seinen Vater. Musik und Stimme vermitteln dieses Gefühl sehr intensiv. Milow besingt jenen 4. März, an dem sein Vater starb, als Wendepunkt in seinem Leben. Als kompletten Neustart. Er fragt sich, wo er wohl jetzt ist und und tröstet sich mit dem Gedanken, dass sie eines Tages wieder zusammen sein werden. Schluck. Blinzel. Ich denke, auch alle die noch beide Eltern bei sich haben sind von diesem Lied berührt. Und genau dann, wenn man sich mitfühlend allem öffnet, was das Lied mit einem macht, kommt etwas ganz Unerwartetes. Eine tiefe Männerstimme, die nicht singt, sondern spricht. Für mich hat es etwas von 'preaching' - predigen. Dabei wird der Text eines Liedes für einmal nicht gesungen, sondern gesprochen und dringt dadurch (wenn du es zulässt) tausendmal stärker zu dir durch. Denn die Lyrics sind nun splitterfasernackt. Der hier gesprochene Text holt weit aus. Way Up High ist wirklich eine Belohnung. Mit einer starken Botschaft und einem ganz intensiven Gefühl. Dem ich mich aber nicht jedes Mal aussetzen werde/kann. 

In Leuven hat Milow uns nach unserer Meinung nach etwas gefragt. Das Feedback war positiv. Er hat gegrinst und gesagt "I'm fine with that. I'm going to read later on Facebook what you really think." Schelm. Das hier kannst du auch lesen - einiges davon weisst du schon.

Modern Heart ist in Musikalien angekommen. Und darf bleiben.

Herzlich,
Nessaja







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